Kompetenzsteigerung der Therapeuten und Therapeutinnen
Auf Ebene des Pflege- und Betreuungspersonals sind besonders nachhaltige Wirkungen zu erwarten. Das Schulungskonzept baut darauf auf, die individuellen Kompetenzen der Pflege- und Betreuungskräfte im Umgang mit Menschen mit schwerer Demenz zu verbessern. Alle Personen, die in der Durchführung der MAKS®-s Intervention geschult wurden, können ihre erworbenen Kompetenzen im Umgang mit und der Betreuung von MmsD auch außerhalb und nach Beendigung der Interventionsphase anwenden. Ziel der Schulung ist es die eigene Einstellung gegenüber MmsD zu reflektieren und eigene Routinen zu hinterfragen. Dies soll zu einer nachhaltigen Verbesserung der Situation von MmsD in Pflegeheimen führen.
MAKS®-s eignet sich für schwere Demenz. Prinzipiell ist die Schulung zugänglich für alle Interessenten. Eine Zertifizierung zum MAKS®-s-Therapeuten / zur MAKS®-s-Therapeutin kann jedoch nur mit gültiger MAKS®-m-Zertifizierung erfolgen.
Schulungsumfang
Die Schulung zum zertifizierten MAKS®-s-Therapeut umfasst einen Ausbildungsabschnitt (zwei aufeinanderfolgende Tage) mit insgesamt 16 Unterrichtseinheiten (á 45 Minuten).
Zur Zertifizierung müssen sämtliche Unterrichtseinheiten absolviert werden.
Die ClarCert GmbH hat in ihrem November Newsletter die folgenden vier Artikel veröffentlicht.
NEWS 1:
Nicht-pharmakologische MAKS®-s Intervention: Prädiktoren des psychosozialen Benefits. 12-Monats follow-up-Ergebnisse einer randomisiert-kontrollierten Studie. (Diehl, Kratzer & Graessel, 2022)
Psychosozialer Gewinn durch MAKS®-s
Häufig wird die MAKS®-Intervention abgekürzt, es werden Module weggelassen oder anderweitige Abwandlungen vorgenommen. Eine aktuelle Auswertung begründet wissenschaftlich, warum es so wichtig ist, die MAKS®-s Intervention regelmäßig und nach Manual durchzuführen.
Von Juli bis Dezember 2020 fand die Durchführung von MAKS®-s für Menschen mit schwerer Demenz in Pflegeheimen statt („Interventionsgruppe“). Es wurde auch ein Vergleich zur Versorgung ohne MAKS®-s („Kontrollgruppe“) durchgeführt. Da trotz positivem Feedback während der Interventionsphase keine signifikanten Unterschiede zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe festzustellen waren, haben wir sechs Monate nach Beendigung der Interventionsphase eine Nachbefragung der ausgebildeten Therapeutinnen durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt hatten auch die Pflegeheime der Kontrollgruppe die Schulung der MAKS®-s Therapeutinnen erhalten und alle Pflegeheime waren in der Lage, die Intervention durchzuführen. Die MAKS®-s Therapeutinnen aller beteiligten Pflegeheime erhielten einen mehrseitigen Fragebogen, der die Struktur-, Prozess, und Ergebnisqualität der durchgeführten Intervention erhob. 51 der zurückgesendeten Fragebogen konnten für die Auswertung verwendet werden. Der Fragebogen war untergliedert in verschiedene Kategorien, die jeweils zu einem Summenscore zusammengezählt wurden: Strukturqualität, normative Einschränkungen und psychosoziale Auswirkungen der Covid-19 Pandemie, Bewertung von MAKS®-s, Benefit der Menschen mit schwerer Demenz und Benefit der Therapeutinnen. Ziel war es, herauszufinden, welche Faktoren den Benefit der Menschen mit schwerer Demenz vorhersagen konnten. Die Berechnungen ergaben, dass die Durchführung der MAKS®-s Intervention nach Vorgabe des Manuals der einzige ausschlaggebende Faktor war. Wenn die Therapeutinnen MAKS®-s nach Vorgabe, das heißt, mindestens zwei Mal pro Woche, mit allen vier Modulen in der vorgegebenen Reihenfolge und ohne zeitliche Verkürzung durchführten, profitierten die Menschen mit Demenz signifikant mehr davon, als wenn Veränderungen/Kürzungen vorgenommen wurden. Dieses Ergebnis zeigt eindrücklich, dass MAKS®-s nur wirken sein kann, wenn es manualgetreu durchgeführt wird. Deshalb sollte es allen MAKS®-Therapeutinnen ein Anliegen sein, die Therapie nicht zu verändern, damit die Menschen mit schwerer Demenz auch davon profitieren können.
PS: Für die Veröffentlichung dieser Ergebnisse erhielten wir auf dem Kongress der DGG und DGGG im September 2022 einen Poster-Preis.
NEWS 2:
Psychopharmakologische Behandlung von Menschen mit schwerer Demenz. Ergebnisse einer Querschnittsanalyse (Diehl, et.al., 2022)
Psychopharmaka bei Menschen mit schwerer Demenz
Neuropsychiatrische Symptome dominieren das klinische Bild der schweren Demenz. Eine aktuelle Auswertung zeigt, wie häufig diese Symptome mit Psychopharmaka behandelt werden.
Mehr als die Hälfte der Demenzerkrankten in deutschen Pflegeheimen befindet sich bereits im Stadium der schweren Demenz, Tendenz steigend. Neuropsychiatrische Symptome (NPS) dominieren das klinische Bild dieser Patienten. Obwohl die S3 Leitlinie Demenzen (DGPPN & DGN, Langversion, 2016) zur Therapie von NPS zuerst eine psychosoziale Therapie empfiehlt, werden bei Menschen mit Demenz häufig Antipsychotika verordnet. Um diese Tatsache auch bei Menschen mit schwerer Demenz zu überprüfen, haben wir die Daten unserer 142 Studienteilnehmer*innen der MAKS®-s Studie, die wir vor Ausbruch der Covid-19 Pandemie erhoben hatten, analysiert. Wir ermittelten die Häufigkeiten der verordneten Psychopharmaka (Antidementiva, Antidepressiva, Sedative/Hypnotika und Antipsychotika) und der neuropsychiatrischen Symptome. Die Patientencharakteristika (Alter, Geschlecht, Pflegegrad, Komorbiditäten, kognitive und alltagspraktische Fähigkeiten) setzten wir in Zusammenhang mit den Verordnungen von Psychopharmaka. Die Teilnehmenden waren durchschnittlich 86 Jahre alt und zu ca. 75% weiblich mit einem durchschnittlichen MMST-Wert von 4 Punkten. 74% der Personen erhielten mindestens ein Psychopharmakon, am häufigsten wurden Antipsychotika (56%) verordnet. 20 % der Personen erhielten Antidementiva und 26 % Antidepressiva. Kontraindizierte Substanzen wie Trizyklika oder Olanzapin wurden nicht verordnet. 93 % der Studienteilnehmenden wiesen eines oder mehrere NPS auf. Am häufigsten beobachtet wurden aggressives Verhalten und Reizbarkeit bei jeweils 44 % der Stichprobe und abweichendes motorisches Verhalten bei 42 %. Klinisch relevante NPS zeigten insgesamt 80 % der Menschen mit schwerer Demenz. Die häufigsten Symptome in klinisch relevanter Ausprägung waren abweichendes motorisches Verhalten (36 %), Aggression (28 %) und Apathie (25 %). Keinerlei NPS zeigten lediglich 7 % der Menschen mit schwerer Demenz in Pflegeheimen. Unter Einschluss der Kontrollvariablen zeigte sich, dass sowohl ältere Menschen (OR = 0,908; 95%-KI [0,849; 0,972], p = 0,005) als auch Personen mit mehr körperlichen Komorbiditäten (OR = 0,804; 95%-KI [0,645; 1,004], p = 0,054) eine niedrigere Wahrscheinlichkeit hatten, ein Antipsychotikum verordnet zu bekommen. Personen, mit mehr körperlichen Komorbiditäten bekamen zudem signifikant weniger Antidementiva verordnet (OR = 0,629; 98 %-KI [0,415; 0,946], p = 0,026). Frauen hatten eine deutlich niedrigere Chance ein Antidementivum verordnet zu bekommen als Männer (OR = 0,160; 95%-KI [0,066; 0,565], p = 0,003). Die Auswertungen zeigten, dass Antidementiva sehr sparsam verordnet wurden. Hierbei war auffällig, dass Männer eine etwa sechsmal höhere Chance hatten, ein Antidementivum verordnet zu bekommen als Frauen. Ein Grund für diesen Unterschied könnte das höhere Aggressionspotential von Männern mit Demenz und die damit verbundenen Belastungen für das Umfeld sein. Antidepressiva wurden erwartungsgemäß eher selten verordnet, da wir Menschen mit schweren Depressionen aus unserer Studie ausgeschlossen hatten. Tranquilizer und Hypnotika wurden – wie von der Leitlinie empfohlen – sehr selten in Dauermedikation verordnet. Antipsychotika dagegen erhielten mehr als die Hälfte der Menschen mit schwerer Demenz in Dauermedikation, obwohl die S3-Leitlinie den sparsamen Gebrauch von Antipsychotika empfiehlt. Auffällig ist, dass in der vorliegenden Untersuchung zeitgleich eine hohe Verordnungsrate von Antipsychotika und eine hohes Vorkommen von klinisch relevanten NPS festzustellen ist. In der Bewertung der querschnittlichen Ergebnisse gehen wir von einer ungenügenden therapeutischen Vorgehensweise (pharmakologisch oder nicht-pharmakologisch) aus, wenn die Werte der NPS über dem Schwellenwert für klinische Relevanz liegen. Dies war bei 80 % der untersuchten Menschen mit schwerer Demenz der Fall. Laut der S3-Leitlinie (Empfehlung 54) soll vor einer Behandlungsentscheidung die Ursachenforschung stehen. Kales und Mitarbeiter*innen identifizieren unter anderem neben Schmerzen das Fehlen von Aktivitäten und unbefriedigte Bedürfnisse als Auslöser von NPS. Wir vermuten, dass mangelnde zeitliche und personelle Ressourcen, diese Ursachen zu identifizieren und zu behandeln, in deutschen Pflegeheimen dafür verantwortlich sind, dass Psychopharmaka als zeitsparende Alternative – im Vergleich zu den vorrangig bei NPS empfohlenen psychosozialen Interventionen – häufig angewendet werden.
NEWS 3:
A Systematic Review and Meta-Analysis of Nonpharmacological Interventions for Moderate to Severe Dementia (Na, et al., 2019)
Nicht-Pharmakologische Interventionen für Menschen mit schwerer Demenz
Nicht-pharmakologische Interventionen werden zur Therapie von neuropsychiatrischen Symptome bei Menschen mit Demenz empfohlen, jedoch ist fraglich, ob diese auch bei Menschen mit schwerer Demenz wirken. Eine aktuelle Meta-Analyse zeigt, dass nicht-pharmakologische Interventionen bei Menschen mit schwerer Demenz eine Verbesserung der Alltagsfähigkeiten und einen Rückgang von Depressivität bewirken können.
Es gibt viele Übersichtsarbeiten, die sich mit der Wirksamkeit von nicht-pharmakologischen Therapieansätzen bei Menschen mit Demenz beschäftigen. Allerdings beziehen die meisten Menschen mit schwerer Demenz nicht mit ein oder weisen die Ergebnisse für diese Personengruppe nicht separat aus. Erst 2019 wurde die erste Metaanalyse (Überblicksarbeit) veröffentlicht, die Explizit nur Menschen mit schwerer Demenz einbezog. 10 randomisiert-kontrollierte Studien, die z.B. die Wirkung von Lichttherapie, Musiktherapie, Massagetherapie oder therapeutischen Berührungen untersuchten, wurden analysiert. Dabei wurde die Wirkung auf kognitive und alltagspraktische Fähigkeiten und auf psychische und Verhaltenssymptome evaluiert. Die Analyse der Studien ergab eine positive Wirkung der Maßnahmen auf die alltagspraktischen Fähigkeiten. Die Gesamtsymptomatik an psychischen und Verhaltenssymptomen konnte durch die nicht-pharmakologischen Verfahren zwar nicht beeinflusst werden, aber es konnte ein Rückgang der depressiven Symptomatik beobachtet werden. Auf kognitive Fähigkeiten konnte kein positiver Einfluss gefunden werden.
NEWS 4:
Language paradigms when behaviour changes with dementia: #BanBPSD. (Cunningham, C., Macfarlane, S., & Brodaty, H. 2019).
Eine neue Sichtweise auf Verhaltenssymptome
Neuropsychiatrische Symptome bei Demenz werden häufig mit Antipsychotika behandelt, statt sich mit den Ursachen dieser Symptome auseinander zu setzen. Eine aktuelle Analyse identifizierte mindestens 50 unterschiedliche Auslöser von Verhaltensweisen und psychischen Symptomen von Menschen mit Demenz. Die häufigsten Auslöser sind Schmerzen, die Annäherung eines Pflegenden und Über- oder Unterstimulation.
Den Begriff psychische und Verhaltenssymptome (BPSD) gibt es seit etwa 1996. Er wurde damals eingeführt an Stelle von „herausforderndem Verhalten“ oder „Verhaltensstörungen“. Zu dieser Zeit konzentrierte sich die Forschung hauptsächlich auf die Beschreibung und die Kategorisierung der einzelnen Symptome. Die dahinterliegenden Ursachen, z.B. unbefriedigte Bedürfnisse, die Menschen mit Demenz mit den Verhaltensweisen ausdrücken wollten, wurden dabei in den Hintergrund gedrängt. Psychische und Verhaltenssymptome wurden als Symptom der Demenz deklariert.
Tom Kitwood wies damals schon darauf hin, Verhaltenssymptome von Menschen mit Demenz seien berechtigte Antworten auf eine schädliche Sozialpsychologie. Er forderte, den Fokus mehr auf das soziale Umfeld, also auf die Pflegenden zu legen. Kitwood argumentierte, dass Verhaltensweisen der Pflegenden wie Täuschung, Einschüchterung und Stigmatisierung ein Zeichen dafür wären, dass Menschen mit Demenz weniger als Menschen behandelt würden.
Seit Mitte der 2010er Jahre wird der Begriff immer mehr hinterfragt. 2018 gründete sich die Kampagne #BanBPSD. Ziel dieses Zusammenschlusses von Wissenschaftler*innen und Demenz-Expert*innen ist es, den Begriff psychische und Verhaltenssymptome (BPSD) völlig aus dem Vokabular zu streichen. Der Begriff selbst habe zu einer Stigmatisierung von Menschen mit Demenz (MmD) geführt. Wenn MmD reduziert werden auf eine abwertende Bezeichnung, wie der Schreier, der Läufer, der Schläger, werden sie mehr als Last oder Problem wahrgenommen. „Der Begriff BPSD hat eine medizinische Begründung für die Übermedikation und Ruhigstellung von Menschen mit Demenz geliefert.“ (Kate Swaffer, 2018). Die Bezeichnung BPSD mache es Ärztinnen und Ärzten leichter, Medikamente zu verschreiben und sei eine Rechtfertigung, Menschen mit Demenz auszugrenzen. Dabei blieben die Ursachen der Verhaltensweisen völlig unbeachtet.
Als Ursachen konnten Cunningham und Kolleg*innen mehr als 50 Faktoren identifizieren. Von biologischen, über psychologische, soziale bis zu Umweltfaktoren. Jede Verhaltensweise habe durchschnittlich fünf unterschiedliche Ursachen, wobei Schmerzen mit 47%, die Annäherung eines Pflegenden mit 34% und Über- oder Unterstimulation mit 27% am häufigsten beteiligt waren.
Die Autoren fordern zu einem Umdenken auf. BPSD sind die Wahrnehmung der Außenstehenden, nicht ein Symptom der Demenz. Jede und jeder, die/der mit Menschen mit Demenz zu tun hat, sollte seine Sichtweise auf diese Verhaltensweisen reflektieren. Das Wichtigste ist die Hintergründe der Verhaltensweisen verstehen zu wollen und dahinter zu blicken, welche Bedürfnisse mit den Verhaltensweisen ausgedrückt werden.
Die Autoren empfehlen in Zukunft den Begriff „Verhaltensweisen und psychische Symptome“ zu verwenden.
Für den Umgang mit Angehörigen und Menschen außerhalb des professionellen Umfeldes empfehle ich selbst den Begriff „für uns unverständliche Verhaltensweisen“ zu verwenden. Das Wort „unverständlich“ bringt zum Ausdruck, dass wir selbst versuchen müssen, die Verhaltensweisen zu verstehen bzw. nach deren Ursachen zu suchen.